Auf eine spezielle Definition von ‚Schuld‘ aus psychologischer, ethischer, religiöser, rechtlicher und politischer Sicht wird an dieser Stelle nicht eingegangen, wobei verschiedene Anteile in den Text einfließen.
Schuldgefühle haben eine wichtige Funktion im Zusammenleben – und das seit Menschengedenken. Reue zu zeigen, wenn man sich etwas hat zuschulden kommen lassen, ermöglichte dem Einzelnen ein wieder friedliches Zusammenleben in der Gemeinschaft (z.B. Sippe, Gruppe, Stamm) und Schutz.
Das Gewissen, das uns signalisiert, ob etwas unrecht oder recht ist, wird als eine seelisch- moralische Instanz des Menschen beschrieben. Es bildet sich unter dem Druck von Erziehung vom Kleinkindalter an nach und nach aus.
Um z.B. Schuld, Scham, Mitgefühl oder Verlegenheit empfinden zu können, muss ein Kind sein eigenes Verhalten mit sozial erwünschten Normen vergleichen können. Die sozial erwünschten Normen sind innerhalb der menschlichen Spezies nicht überall unbedingt gleich, zum Teil sogar sehr unterschiedlich. Kultur und Bildungshintergrund, Zeitgeist, Religion, Alter und Geschlecht spielen eine große Rolle.
Die allgemein gültigen Verhaltensregeln und die Reaktion der Eltern, Geschwister, anderer Bezugspersonen und Kinder verdeutlichen uns, was akzeptabel, erwünscht oder unerwünscht, sogar verboten ist. An den „Antworten“ der anderen merken wir, ob etwas nicht in Ordnung war. Wir werden ermahnt und zurechtgewiesen und die unguten Gefühle, die wir dann zurecht empfinden, sind ein Anreiz, sich zukünftig respektvoller, freundlicher und mitfühlender gegenüber anderen zu verhalten. Im besten Fall bekommen wir durch andere wohlwollende und erklärende Hinweise und Regeln vermittelt, die wir verinnerlichen und die uns helfen, gut im Leben zurecht zu kommen. Sind die Botschaften, die uns die anderen vermitteln unklar, widersprüchlich, abwertend, beängstigend und ohne Mitgefühl, entwickeln sich im Inneren des kleinen Menschen starre Gesetze und Glaubenssätze, die sich im späteren Leben als blockierend zeigen.
Das Kleinkind also beobachtet, vergleicht, wägt ab und erfährt Reaktionen auf sein Verhalten. Deshalb treten diese Emotionen auch erst mit Beginn des Kleinkindalters auf und entwickeln sich im Laufe der Jahre.
Lädt es Schuld auf sich, meldet sich das Gewissen. Schuldbewusst zu reagieren bedeutet also, ein schlechtes Gewissen zu haben – wenn wir tatsächlich schuldig geworden sind. Tatsächlich schuldig werden wir in der Regel, wenn wir z.B. jemanden belogen, betrogen, die Unwahrheit gesagt haben; wenn wir jemanden verletzt, gekränkt, beschädigt haben; wenn wir etwas Wichtiges vergessen haben, unseren Pflichten nicht nachgekommen sind, gegen vereinbarte oder übliche Regeln verstoßen haben, jemanden grundlos schlecht behandeln, der uns wichtig ist usw… Hinter einem schlechten Gewissen steckt also die Tatsache, dass ich mir meiner Schuld bewusst bin.
Weil Schuldgefühle sehr unangenehm sind, wehren wir sie gerne ab und schieben sie in Form von Gedanken, Anschuldigungen und Vorwürfen gern anderen zu. Anderen die Schuld zu geben lenkt zwar kurzfristig vom eigenen schlechten Gewissen ab, führt aber langfristig zu keiner wirklichen Entlastung. Das Auslagern von Schuld und das damit verbundene Festhalten an der Opferrolle zerstört Beziehungen und macht krank.
Eigene Schuld anzunehmen, zumindest sich seiner Anteile an schuldhaften Konflikten bewusst zu werden, ist eine reife Handlung, da ich auch die andere Perspektive einnehmen kann. Hat ein Mensch echte Schuld auf sich geladen, so kann er sie, wie Victor Frankl sagt, konstruktiv wenden. Unser Umfeld und die Betroffenen haben nichts davon, wenn wir nur bereuen und mit gesenktem Kopf herumlaufen. Wir können um Verzeihung bitten und Wiedergutmachung praktizieren, denn reale Schuldgefühle, gefolgt von Reue, sind eine Grundlage für eine Verhaltensänderung und ein Regulativ für unser Zusammenleben. Dieses „Sich -Zur -Schuld -Bekennen“ und „ehrliches Bereuen“ führt dabei zur Auflösung der unangenehmen Gefühle, leitet ein Verzeihen ein – auch das Sich-Selbst-Verzeihen, gibt Widerstandskraft und führt letztlich zu einem guten Miteinander und Gemeinschaftsgefühl. „Ich fühle mich wieder wohl in meiner Haut und mir fällt ein Stein vom Herzen“, wird sich vielleicht so mancher in dieser Situation sagen.
Totale Abwesenheit von „Gewissen“ gibt es im Grunde selten. Doch es gibt Ausnahmen.
Schwierige Menschen, die nicht unbedingt als krank eingestuft werden und so genannte Psychopathen – das sind kranke Menschen – weisen diverse Merkmale auf, die an dem Vorhandensein eines Gewissens zweifeln lassen.
Im ersten Beispiel sind ausgeprägte narzisstische Persönlichkeiten gemeint: Sie neigen dazu, immer die Schuld beim anderen zu suchen. Sie stellen ihr eigenes überhöhtes Selbst nie infrage.
Psychopathen kennen in der Regel weder Schuldgefühle, noch spüren sie soziale Verantwortung oder kennen Mitgefühl. Ihnen kann nur eine Therapie helfen.
Neben dem Schuldgefühl, das auf echter Schuld basiert, die wir anerkennen und die uns zur Wiedergutmachung drängt, gibt es noch ein irrationales Schuldgefühl. Wir empfinden Schuld, obwohl wir uns nichts haben zuschulden kommen lassen. Diese Schuldgefühle beruhen auf Fantasien, die von der Realität abgekoppelt sind. Da gibt es z.B. die Annahme, an der Depression des Sohnes schuld zu sein, an der Trennung der Eltern, an der Unzufriedenheit der Mutter, an der Krankheit der Schwester. Beliebte Gedanken sind hier z.B. „Wenn ich dieses und jenes getan hätte, wäre er nicht krank geworden“, „Wäre ich insgesamt lieber und fleißiger gewesen, hätten sie sich nicht getrennt“.
Wie eine echte Schuld ein inneres Signal auslöst, das Schmerz und Unwohlsein bereitet, so gibt es eben auch ein Fehlsignal, das uns das Leben schwer macht.
Zu diesen „Fehlsignalen“ gehören auch starre innere Gesetze, so genannte Glaubenssätze. Sie werden von Kindesbeinen an erworben und müssen auf ihre Gültigkeit hin überprüft werden. Hilfreich dabei sind Fragen: Welche „Ich muss…“, „Ich soll…“ „Ich will…“ „Ich sollte…“, „Ich darf nicht…“- Sätze gehen mir immer wieder durch den Kopf? Spricht jemand öfter in dieser Form mit sich selbst, stürzt man unweigerlich in Schuldgefühle. Diese „Inneren Stimmen“ sind oftmals Antreiber, Kritiker oder strenge Richter, die Angst auslösen, Fehler zu machen, für die man dann bestraft oder beschuldigt wird.
Innere Gesetze als veraltet und nicht mehr gültig zu erkennen, ist ein erster wichtiger Schritt zu mehr Selbstbestimmung. Ein zweiter wäre, seine eigenen Regeln aufzustellen und diese zu leben.
Es gibt einige Wege, sich von Schuldgefühlen zu befreien, manchmal benötigt man professionelle Hilfe dabei.
Vergleiche auch: M. Hirsch: Schuldgefühl. Psychosozial. Gießen 2020; R. M. Bonelli: Selber schuld! Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen. München 2016; Helga Kernstock-Redl: Schuldgefühle. Berlin 2020
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