„Man nehme zum Beispiel das Thema „Ernähren und Verdauen“.
Es ist für den Lebensprozess zentral; einige Biologen haben das Leben als Ernährungs- und Verdauungsvorgang definiert. Bekanntlich hat der Kulturmensch damit vielerlei Probleme. In den Wohlstandsländern isst er zu viel und hat Übergewicht. Als psychosomatische Krankheitsbilder sind Fett- und Magersucht, Appetitlosigkeit, Essgier (Bulimie), Magen- und Darmgeschwüre, Verstopfung und Durchfall bekannt.
Für den Tiefenpsychologen sind Essen und Verdauen Symbole für die gesamte Beziehung zu Welt und Leben. Leben bedeutet, sich in die Welt ausbreiten, die Welt in sich hineinnehmen und innerlich erlebend zu verarbeiten sowie das Erlebte in Wort, Werk oder Weltzuwendung wieder von sich zu geben.
Unwillkürlich haben wir die Sprache der Ernährungs- und Verdauungssphäre auf die Innerlichkeit des Menschen übertragen; das ist kein Zufall, denn die genannte Parallelität ist zwingend.
Offenbar funktionieren Essen und Verdauen nur, wenn sich das Individuum in die Welt vorwagt, ohne allzu große Angst und wilde Begehrlichkeit der Umwelt bemächtigt und durch seelische und geistige Voraussetzungen fähig ist, das Assimilierte in sozial oder geistig gehaltvolle Inhalte umzuwandeln, das Erlebte in Sinnzusammenhänge einzuordnen.
Gibt es Lücken im Mensch-Welt-Verhältnis, spiegeln dies Ess- und Verdauungsanomalien wider; Korrekturen können nur selten im Ernährungs- und Verdauungsbereich angebracht werden, da die Gesamtpersönlichkeit irgendwie schief liegt.“
(Josef Rattner/ Psychoanalyse und Ethik, Verlag für Tiefenpsychologie 2015, S. 74 ff)
Man kann ferner in der bis hierher betrachteten Hinsicht das Leben mit einem gestickten Stoffe vergleichen, von welchem jeder in der ersten Hälfte seiner Zeit die rechte, in der zweiten Hälfte aber die Kehrseite zu sehen bekäme: letztere ist nicht so schön, aber lehrreicher; weil sie den Zusammenhang der Fäden erkennen lässt.
(A. Schopenhauer/ Parerga und Paralipomena)
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